„Sei du, Gesang, mein freundlich Asyl!“ (Friedrich Hölderlin)
Gedichte können ein Asyl sein, eine Heimat in der Fremde des Konsumismus. Sie sind intensiver Spiegel unseres Umgangs mit uns selbst, mit anderen Menschen und mit dem empfindlichen Leben unseres einzigen Planeten.
Meine Gedichte suchen stets auch die Nähe derjenigen, die sie lesen oder hören – denn Sprache, auch kunstvolle Sprache, bleibt immer Gespräch. In ihrer Verschmelzung von Wort, Bild und Klang wird Lyrik für mich zu einer allumfassenden Meditation, zu einem Seismographen für die Schwingungen einzelner Menschen und der Gesellschaft als Ganzes.
Besonders gern spreche und singe ich meine Gedichte zu Klängen und Musik – meist als gemeinsames Erlebnis mit anderen Musikerinnen und Musikern sowie dem Publikum. Das gesprochene oder gesungene Wort umspiele ich mit Saxophonklängen, denn in der musikalischen Improvisation verbirgt sich für mich der tiefste Ausdruck des erlebten Augenblickes flüchtiger künstlerischer Freiheit und Phantasie. Der berühmte Klarinettist Giora Feidman sagte einmal: „Meine Klarinette ist das Mikrophon meiner Seele.“ So erlebe ich grundsätzlich Lyrik und Musik.
Die bildende Kunst ist eine weitere Form des Ausdrucks. Brigitte Habichtsberg aus Hatten hat einige meiner Gedichte illustriert, eine besondere Form des künstlerischen Gesprächs. Und manchmal male ich auch selbst – denn die Worte wecken in mir Klänge ebenso wie Farben.
Auf dieser Seite können Sie lesen, schauen und lauschen. Hier finden Sie auch meine aktuellen Lesungstermine und Veröffentlichungen. Gern können Sie mich jederzeit direkt via Email kontaktieren.
Neben meiner Lyrik schreibe ich auch liebend gern Bücher und Geschichten für Kinder – und biete entsprechende, stimmungsvolle Lesungen an – auch auf Nachfrage.
voices for peace –yкраїнська сльоза – voices for peace
Update in 17 Sprachen!
Eine Klangkomposition für den Frieden: 17 Menschen haben mein Haiku „ukrainische träne“ in ihre jeweilige Muttersprache übertragen und eingesprochen. 17 Sprachen unserer einzigen Welt für mehr Mitgefühl und Frieden. Dazu die wunderbare Gitarrenmusik des Münchener Künstlers Ardhi Engl.
Zunächst erklingen die Sprachen nacheinander – teilweise nach Sprachgruppen bzw. Verwandtschaften sortiert. Die Reihenfolge ist kein Zufall: Absichtlich steht beispielsweise das Griechische zwischen Türkisch und Farsi (Persisch). Wenn die ukrainische Sprache erklingt pausiert die Musik in einem Moment betroffener Stille. Bei Wiedereinsetzen der Gitarrenklänge verschmelzen zunächst das Ukrainische und das Russische, dann alle 17 Sprachen miteinander in einem Klang-Kosmos – verbunden und vereint in der internationalen Sprache der Musik.
Gedichtvertonungen und Lieder
jazz
Lied: gebrochene blumen
LYRIK
beflügelter besuch
still steht der fischreiher
im pinguingehege.
er wartet wohl
auf einen leckerbissen.
kein pinguin
beachtet ihn.
er ist ein fremder
unter fremden
und wohnt nicht weit entfernt.
nach einer weile
entscheidet sich der schöne vogel
nun doch mit leerem magen
davonzugleiten
ins blaue.
wolken treiben
als eisschollen am himmel.
die pinguine
bekommen heimweh.
südseetraum
tuvalu wird im meer
versinken.
schon letzten sommer
schwammen die kinder zur schule.
„wir wären dann flüchtlinge
deren heimatland
es nicht mehr gibt“
erzählt der alte mann.
abends sitzt er am strand und singt.
sein selbst geschriebenes lied
über die sterbende heimat.
der sonnenuntergang
taucht den ozean
in flammendes orange.
die meeresfluten
scheinen zu verglühen.
der alte sitzt am strand und singt.
ein paar kinder
tanzen dazu.
seifenblasen
namenlose unentdeckte
planeten. in allen farben
des lichtes schillernd.
was eine wahrsagerin
in diesen zauberkugeln sähe
traumsekundenlang.
traumtänzerinnen
lautlos und leichter
als apfelblüten zu ostern
oder schnee im advent
zerplatzen ohne jedes
geräusch. sind in der stille
schon bevor sie uns
verlassen . . .
wartebereich in der onkologie
isoliert und umgeben
von infobroschüren
die niemand gern liest
sitzt lautlos weinend
ein junger mann.
das warme lächeln
der arzthelferin
während eine alte dame
mit schmerzverzerrtem
gesichtsausdruck sich schwer
auf ihre arme stützt
ist kein einfaches lachen.
schau mich an! frohlockt
der titel eines fotobandes.
die hübsche frau
ohne haare wirft ihre perücke
lässig über die schulter.
ihr blick springt aus dem bild
direkt ins herz.
das alte ehepaar
hilft sich gegenseitig
im schneckentempo
aus den wintermänteln.
dann setzen sich beide
sehr langsam und flüstern
vertraulich miteinander.
alle warten auf den
schwarzhumorigen arzt
während draußen vor dem fenster
ein stück blauer himmel
heller scheint als gewöhnlich.
willst du dich dem leben
besonders nähern
musst du an orte gehen
wo auch der tod
das recht hat zu sein.
dem tänzer von avignon
festival du théâtre
in dieser lauen nacht
vor dem erleuchteten palast
begegnen wir uns.
auf deinem fliegenden teppich
aus mondlicht
schwebst du über den boden.
schweigend vertraut sich
die fühlende menge
dir an.
unser blut
dreht sich mit dir.
wir sind eine menschheit.
eins im erstaunen.
der mond und die sterne
drehen sich mit uns.
mutterseelenallein
auf einmal verlöschen
die straßenlaternen
und zeigen den schimmer
der fernen plejaden.
wir sind nicht allein.
nur unerreichbar
in der gefräßigen weite
von raum und zeit.
zwei sonden tragen
den schrei eines säuglings
hinaus ins eisige all.
wenn längst keine menschen
mehr sind auf der erde
wird dieser schrei
noch immer schweben
mutterseelenallein.
vertrauen
deine hand ist ein leuchtturm
im nebel der worte.
schweigend lotst du das schiff
meines verlorenen herzens.
sein wirr bekritzeltes logbuch
liegt aufgeschlagen
im schoß der stille.
auf eine letzte leere seite
malen kinder den mond
überm nächtlichen hafen.
trop tard. ode an hardekopf.
von friesland nach berlin oder von
berlin nach friesland – wo sind
gemeinsamkeit und unterschied
wenn man den krieg hasst und
die liebe liebt? Ein dunkler See
sinkt in sein Grab. ich aber sinke
glimmend in dein dunkles bild und
alle einsamkeit fällt ab wie schlick
unter dem tränenfall. spät auf ein
wort flieg ich mit dir durch die gezeiten
deren finsteres spiel wohl dichtung
nährt und dichtung tötet allezeit.
als jene mühsam stenographierten
stiefelputzer der macht die schöne
spree verdreckten mit dem gewaltigen
aufmarsch ihrer schmutzigen
soldatenstiefel – da hattest du im
schweizer bergland noch baudelaire
zum trost und wenig geld. C`est le Diable
qui tient les fils qui nous remuent !
vor deinen augen sprang ein kind
den mördern seiner eltern entfliehend
aus dem fenster. so bliebst du staatenloser.
allezeit. Erlauben Sie, daß ich still bin.
Anmerkung: Der Verfasser dieser Zeilen ist gebürtiger Berliner
und lebt in Friesland.
Erschienen IN: Neue Stenografische Praxis, 3–4/2019, Berlin 2019.
lied der 68er
das klima heizt uns auf.
wir glauben an den fortschritt.
wir ernten und ernten.
wir machten revolution.
unsere körper sind frei.
unsere hemden sind gebügelt.
wir jetten zum shoppen nach london.
wir düsen zum baden nach rio.
wir stressen uns nicht.
das klima heizt uns auf.
unser pool in südamerika
ist angenehm gekühlt.
wir fliegen dem winter davon.
wir heizen die schwitzende erde.
wir futtern uns satt.
wir futtern und futtern
von den tellern unserer enkel
die wir lieben.
januarabend
in horumersiel
die hafenlaternen
malen leuchtende linien
auf das einheitsgrau
der nebeltauchenden watten.
ein fernes schiff steht festgefroren
am verschwommenen horizont.
in metallenen röhren
flötet melancholisch der wind
begleitet von klageschreien
vereinsamter möwen.
aufgebrochene austernschalen
gleichen im dämmerschein
funkelnden perlen
verloren im schlick.
eine sternlose nacht
kriecht fröstelnd über den deich.
die eigenen spuren
werden noch vor anbruch
des neuen tages
verwischt sein.
KURZPROSA
1871. Von Werdau nach Köthen. Zugfahrt ins Ungewisse.
Eine Phantasie in d-Moll.
Beißende Kälte. Feuchter Wind pfeift durch die schmalen Ritzen qualmvernebelter Fenster. Der selig Schnarchende auf dem staubigen Holzfußboden. Tief vermummt in seinen sorgsam geflickten Wintermantel. Geruch nach rauchigem Wasserdampf. Das schrille Pfeifen der dröhnenden Lokomotive. Du hockst auf deiner Gepäckkiste und zitterst. Umklammerst deinen Geigenkoffer mit steifgefrorenen Händen. Starrst durch ein Fenster auf die kohleschwarze Mitternacht.
Das letzte Bild des Bruders: Er kehrt dir den Rücken zu, verlässt den Tanzsaal – weiß nichts von Abschied. Du wirst ihn jahrelang nicht sehen. Trommeln im Ohr. Trommeln, Geigen und Hörner. Großvaters Haus daheim in Renthendorf. Die krachenden Tänze der Förstels. Dein Vater einsam am knisternden Kamin. Seine traurigen Augen. Die Hände wund vom Schichten der Ziegel.
Der Schnarchende wälzt sich stöhnend im Schlaf. Das Quietschen des Zuges schmerzt in den Ohren. Vorsichtig bewegst du deine Finger – zu steif zum Geige spielen. Ein blasser Februarmond lugt gespenstisch aus den Wolken. Mollakkorde als Eiskristalle auf Nadelbäumen. Die dunklen Märchenwälder der Heimat rauschen ungesehen vorüber. Bruder und Vater, die doch nicht allein sind. Vater, den du wiedersehen wirst. Ich sah deinen Sohn. In Wien. Wer immer strebend sich bemüht ...
... Im Stillen beobachtete ich meinen Bruder bis zur Ausgangstür, mit allen guten Wünschen habe ich innerlich nicht ganz gleichgültig von ihm Abschied genommen. Es war eine jahrelange Trennung [...] Ich fuhr natürlich aus Sparsamkeit in der ganz unbeheizten 4. Wagenklasse ...
Carl Friedrich Eduard Förstel, Biographie eines einfachen Mannes
Meinem Ur-Ur-Großvater, Carl Friedrich Eduard Förstel, gewidmet.
Mai 1945. Von Liepãja nach Kiel. Ein Trauma ohne Tonart.
Ein heller Sommertag in den Achtzigerjahren. Du liegst im Schatten des Kirschbaumes. Tiefblauer, karibischer Himmel. Wolkenlos. Die Vögel jubilieren. Fröhlich tänzelnd springe ich die Auffahrt hinunter durch den warmen, nach Rosen duftenden Garten. Werfe lachend ein paar rote Beeren in die Luft und rufe: „Krieg!“ Du öffnest deine Augen. Novemberaugen. Versuchst dich, von den Bildern zu befreien. Die Ertrinkenden. Sie brüllen nach Gott. „Ach, Junge“, sagst du leise, „der scheiß Krieg.“
Ein heller Frühlingstag im Mai. In welchen Farben leuchtete die See? Du bist jetzt bei der Grünen Marine. Steuerst das Schiff von Liepãja nach Kiel. Eine große Flotte flieht in den Westen. Alltägliche Minengefahr. Unzählige Flüchtlinge. Zivilisten. Sie drängeln und schubsen sich an Bord, hängen an der Reling – bereit, alles zurückzulassen. Getrieben von unbändiger Angst. Angst vor dem Tod? Mehr noch vor der Rache der Roten Armee. Dann fällt die Entscheidung: Das Schiff ist zu voll – es droht zu sinken. Alle Menschen, die an der Reling hängen, dürfen nicht an Bord. Wirft man sie gewaltsam in die kalten Fluten? Verlassen sie einfach die Kräfte? Schlagen sie verzweifelt um sich? Fallen Schüsse?
Du siehst dabei zu. Machtlos. Du hörst ihre Schreie. Die Ertrinkenden brüllen nach Gott. Ihr erstarrtes Blut befleckt nicht deine Uniform. Es überflutet dein Herz. Wie ein eisiges Meer. Du kannst darüber nicht sprechen. Mit niemandem. Die Ertrinkenden brüllen nach Gott. Und Gott war das Wort ... dein lebenslängliches Schweigen. In welchen Farben leuchtete die See? „Ach, Junge“, sagst du leise, „der scheiß Krieg.“
Meinem verstorbenen Großvater, Heinrich Friedrich Schubert, und meinem Sohn, Josa Friedrich Haupt, in Liebe gewidmet.
November 1989. Westberlin und Cottbus. Eine deutsch-deutsche Ehemusik.
Novembertage mit noch mehr Tränen als Regen. Ich klopfe meinen ersten Stein aus der Mauer. Ein Mauerspecht bin ich. Mit Flügeln am Herzen. Weinend liegen sich die Menschen in den Armen. Novemberfrühling. Schulunterricht findet nicht statt. Es wird nur gefeiert. Ein Mitschüler tanzt durch die Klasse. Pausenlos schreit er: „Gorbi, wir lieben dich!“
Alle Russen, weißt du, sind Freunde. Aus Russland kommen auch die Märchen deiner Kindheit. Während ich Mauerspecht bin, wartest du auf den Bus zum Schwimmunterricht. Ängstlich. Die Kapitalisten kommen – das hat man dir erzählt. Böse sollen sie sein. Und zahlreich. Du weißt nicht, ob es Menschen sind, stellst dir fremde Ungeheuer vor. „Ihr seid doch alle rote Socken! Völlig ahnungslos!“, ruft eine Mitschülerin dir zu. Du verstehst nicht, was sie meint. Deine Socken vom Konsument, die deine Mutter abends vor dem Fernseher gestopft hat, sind nicht rot. Als ich zum ersten Mal das offene Tor durchschreite – Tränen in den Augen –,musst du zum Bäcker gehen. Drei Brote sollst du kaufen. Gleich drei. Doch es gibt keine Brote mehr. Die Regale sind leer. Mit leeren Händen gehst du nach Hause. Ängstlich. Tränen in den Augen. Novembertage mit noch mehr Tränen als Regen.
Dreißig Jahre später. Es ist November. Wir stehen am verregneten Strand. Jetzt unser Kind ansehen. Unser Kind. Im Novemberfrühling am Meer. Rennend und tanzend und lachend bei Ebbe und Flut. Meer ohne Grenzen. Das stellt die alte Frage nach der Freiheit wieder neu.